Wir stehen im Vrksasana – dem Baum. Der Blick richtet sich in die Ferne. Was wir sehen, ist nicht die Wand eines Studios oder die Rücken der anderen Yogis. Was wir sehen, ist die Weite der Steppe, ein Gebirge am Horizont. Was wir spüren, ist der Wind, der über unsere Arme streift.
Als wir 2018 unsere kleine Firma gründen, haben wir viele Ideen und Wünsche, suchen Inspiration im Nahen und Fernen und sind voller Tatendrang. Manche Reisen und Retreats, die wir anbieten, gehören zum klassischen Angebot einer Yoga-Reiseagentur, andere wollen erst noch entdeckt werden. Diese 14-tägigen Reise auf den Spuren mongolischer Nomaden ist so ein Retreat.
Unsere ersten Recherchen in der Planungsphase zeigen bereits, dass wir uns auf ganz neues Terrain begeben werden. Die Temperaturen schwanken gerne mal zwischen 35 und -5 Grad, Wetter ist also immer. Was zieht man an für so ein Abenteuer, was packt man ein? Muss der MacGyver-Baukasten mit oder reicht das Näh-Set aus dem Hotel?
Die Mongolei gehört zu den am dünnsten besiedelten Staaten der Welt. Obwohl territorial knapp viereinhalb mal so groß wie Deutschland, leben hier nur ca. 3 Millionen Menschen und davon knapp 40 % in der Hauptstadt Ulaanbaatar. Zwischen Russland und China liegt dieses Land, das dominiert wird von grasbewachsenen Steppen, Bergen in Nord und West und der Wüste Gobi im Süden. Wir träumen also von sternenklaren Nächten und endloser Weite, die die Gedanken wandern lässt fernab von Zivilisation und künstlichem Licht. Ideal für Yoga-Sessions, Wandertouren und Lagerfeuer.
Im August 2019 finden wir uns dann endlich in Ulaanbaatar wieder. Als wir ankommen, geht gerade die Sonne über der Hauptstadt auf und das erste Licht schimmert auf die grünen Hügel rund um den Chinggis Khaan International Airport. Eine freundliche Begrüßung, es ist angenehm warm. Dolgon, unsere Frau vor Ort, empfängt uns direkt am Flughafen und schnell merken wir, wie gut es ist, jemanden vor Ort zu haben, die die Sprache spricht. Denn obwohl wir ein paar Fremdsprachen im Repertoire haben, ohne Mongolisch oder ein paar Brocken Russisch kommt man hier nicht weit. Schon bei Dolgons Namen haben manche von uns Anlaufschwierigkeiten. Goldan, Doglan, Dorgo … wir scheitern kläglich und unsere Reiseleiterin meint, wir sollen sie einfach Bella nennen, das würden die anderen Touristen auch tun. Doch wir üben weiter, als Reisende sind wir schließlich hier um Land, Kultur und Leute kennenzulernen – und dazu gehört es allein der Höflichkeit willen auch den Namen unserer Anführerin richtig auszusprechen.
Ziemlich übernächtigt und voller erster Eindrücke checken wir im Hotel ein und haben Zeit, uns zu sortieren. Am nächsten Tag soll es in die Natur gehen. Als wir aufstehen ist die Welt grau, nass und kalt. Es regnet Bindfäden vom Himmel, die Straßen stehen teilweise unter Wasser. Der russische Minibus steht bereits in den Startlöchern, unser treues Gefährt samt Geleit. Auf der asphaltierten Straße Richtung Wüste Gobi gibt Manda, der Fahrer Gas und lässt die Stadt im Rückspiegel zurück. Bis zur nächsten Dusche oder geschweige denn einer “richtigen” Toilette sollen nun sechs Tage vergehen.
“Es empfiehlt sich eine ordentliche Portion Gelassenheit ins Reisegepäck zu stecken”
Das Erste, was wir auf unserer abenteuerlichen Reise lernen und verinnerlichen werden, ist Folgendes: Die Fahrt hängt vom Fahrer ab. So simpel es auch klingen mag, nach zwei Wochen wissen wir, was es wirklich bedeutet. Hat einer der Busse einen Platten (was öfter vorkommt, als man glaubt und absolut normal ist), dann wankt der gesamte Ablauf.
Ohne Dolgon und den Rest des Teams wären wir gänzlich aufgeschmissen. Oft gibt es keine gekennzeichneten Wege, von den erwähnten Straßen ganz zu schweigen. Routen ändern sich mit der Witterung, Handy-Navigation ist hier überflüssig, viel eher wird unterwegs mal angehalten – falls man das Glück hat, auf andere zu treffen – und mit diesen zufälligen Begegnungen über die beste Route gefachsimpelt.
Seien wir ehrlich, nicht immer klappt während dieser vierzehn Tage alles so, wie wir es in der Theorie angedacht haben, aber irgendwie ist am Ende immer alles gut. Unsere mongolische Reisebegleitung besteht aus großartigen Improvisationskünstlern, denen wir sehr dankbar für ihre Expertise sind.
“Mein Lieblingsessen? Fleisch mit viel Fett”
Neben Dolgon werden wir von zwei Fahrern (Manda & Hischge) und einem Koch (Berke) begleitet. Erfahren, wie sie mit touristischen Gruppen sind, kann sie unser manchmal unfreiwillig komisches Gebaren natürlich nur noch selten schocken. Die gewünscht vegetarische Ernährung sorgt jedoch mehr als einmal für Kopfschütteln. In der Mongolei trinken die Menschen Yak-Milch und essen den härtesten Käse der Welt, nicht unbedingt, was Geschmack oder Geruch angeht, er ist schlichtweg wirklich sehr sehr hart. So hart, dass man ihn am besten vor dem Verzehr in Tee einweicht oder direkt in die Suppe schmeißt. Abgesehen davon bevorzugen die Mongolen aber eigentlich lieber Fleisch. Fleisch mit viel Fett. An einem Abend wurden wir zum Beispiel zu einem traditionellen BBQ eingeladen … Sagen wir nur so viel: Unter einem Grillabend haben wir Deutschen uns etwas gänzlich anderes vorgestellt.
Während der Planung fragten wir uns damals noch, wie Yoga und Entdeckerreise zusammengehen. Am Ende der Erfahrung müssen wir ehrlich sagen, was für ein Glück, dass wir Johanna, unsere Yogalehrerin, im Gepäck hatten, die mit uns den täglichen Ausgleich praktizierte! Das Land ist so groß und die Übernachtungsplätze sind meist mehrere Autostunden voneinander entfernt. Die Knochen lassen einen das schneller spüren, als einem lieb ist. Eine Straße bleibt zwar eine Straße, aber eine Straße in der mongolischen Steppe befahren im russischen Minibus, das ist ein Abenteuer der Extraklasse.
Nach einiger Zeit müssen wir zudem die Besatzung unserer zwei Busse nach Risikolevel einteilen, die, die im Offroad eine Lebensphilosophie sehen und jenen, die es etwas sanfter bergauf oder -ab bevorzugen, auch dem Magen zuliebe. Für beide Parteien haben wir den perfekten Fahrer.
Die vielen Orte, an denen wir unsere Matten ausrollen können (dank dieser tollkühnen Guides) sind absolut umwerfend. Im wahrsten Sinne des Wortes. Normalerweise kennt man so etwas eher aus dem Reisekatalog. Und dann stehen wir plötzlich selber dort. Ganz klein, nur unsere achtköpfige Gruppe. In jede Himmelsrichtung nichts als Weite und Felsmassive. Da neigte sich das Haupt mehr als einmal vor Demut. Auch die Achtsamkeit der Yogaeinheiten lässt uns die Mongolei so intensiv spüren. Wir dürfen die Präsenz der Natur auf eine neue Art erleben.
Vorsichtiges Herantasten und hoffentlich nichts falsches tun! Unbedingt daran denken, dass man Gegenstände mit zwei Händen entgegennimmt, denn alles andere gilt als undankbar.
Die Begegnung mit der mongolischen Nomadenfamilie gegen Ende der Reise ist etwas sehr besonderes und eröffnet für uns eine neue Ebene, die wir so noch auf keinem anderen Yoga Retreat erfahren haben. Wie auch? Alles Theoretische aus der Yogalehre bekommt hier eine neue Tonalität, einen neuen Kontext.
Nachdem sich die anfängliche Nervosität legt und wir die Schmetterlinge im Bauch verdaut haben, können wir ganz „normal“ miteinander umgehen und viele Fragen stellen. Die Sprachbarriere bleibt natürlich bestehen, sorgt aber hier und da für lustige Missverständnisse. Als wir Dolgon (wie so oft auf dieser Reise) darum bitten, etwas zu übersetzen, ist ihr Blick von Skepsis geprägt. Denn wir bestaunen die vielen Pferde, die sich frei durch die Steppe bewegen und doch zu den Menschen gehören, wir bezeichnen sie als schön, wollen, dass unser Kompliment übermittelt wird. Mehrfach hakt sie nach, ob sie das wirklich übersetzen soll. Haben wir etwas Anrüchiges gesagt? Aber nein, Pferde – sind – einfach – nicht – schön. Es sind Nutztiere, mehr nicht. Für das mongolische Verständnis von Schönheit erfüllen sie schlichtweg nicht die notwendigen Kriterien. Eine interessante Erkenntnis für uns, in deren Heimat ein Pferd einen ganz anderen Stellenwert besitzt.
Seien wir ehrlich, es bestehen natürlich mehr als einmal Berührungsängste, Zweifel oder kleine Fauxpas in der Etikette. Wenn man auf neuen Wegen wandert, dann ist das ganz normal. Am häufigsten fragen wir uns, wie die Menschen vor Ort das aufnehmen, wie wir Europäer uns auf unseren Matten verdrehen, mit Gurten hantieren und auf Blöcken turnen. Doch sind die Erwachsenen recht unbeeindruckt. Für die Kinder ist unser Gebärden deutlich spannender und sie steigen tollkühn direkt mit in die Praxis ein.
Während des achten Reisetages kommen wir am Ongiin Chiid Kloster vorbei und kehren für einen kurzen Zwischenstopp dort ein. Nach einer Führung und einer Prise mongolischem Schnupftabak lädt uns der Klostervorsteher spontan ein, im Tempelzelt unsere Praxis abzuhalten. Verständlicherweise verunsichert, ob wir das wirklich machen sollen, müssen wir uns mehrmals rückversichern. Mit ein wenig gut zureden und dem Hinweis, dass sie manchmal auch Meditationsgruppen zu Besuch hätten, trauen wir uns dann allerdings doch. Und da ist er wieder, ein weiterer dieser magisch wertvollen Momente in der Mongolei: Voller Demut, an der kühlsten Stelle des Tempels, tragen uns die jungen Mönche laut betend sanft durch den Unterricht.
Es mag wie das typische Klischee der Rucksackreisenden klingen, aber als wir heimkehren, wissen wir es sehr zu schätzen, eben mal den Wasserhahn oder die Heizung aufzudrehen – diese vielen Kleinigkeiten, die man im Alltag als so selbstverständlich hinnimmt. Ja klar, ein klassischer Erholungsurlaub sieht in jedem Falle anders aus, doch diese Reise gibt uns so viel mehr. Das Heraustreten aus der Komfortzone macht es zu einer Erfahrung, von der wir lange zehren werden.
Die Abgeschiedenheit, die schroffen Landschaften und die Tiefe der mongolischen Tradition haben uns während der zwei Wochen sehr bewegt. Diese Form des Pragmatismus der Menschen ist etwas, das wir als „klassische Westler“ verlernt zu haben scheinen. Zumindest kommt es unserer Reisegruppe das ein ums andere Mal so vor. Alles, was die Menschen hier besitzen, wird verwendet und wenn möglich repariert. So wie es eigentlich sein sollte, aber bei uns oft nicht ist, dort, wo ein Pferd eine Zierde ist und selten mehr.
Es bleibt ein wahnsinniges Privileg, sich so weit mit dem Flugzeug und dann mit dem Auto über Land fortzubewegen, „nur“ um seiner Yogapraxis nachzugehen. Diese Reise hat in vielerlei Hinsicht Klarheit gegeben und Genügsamkeit vermittelt. Und in uns ein Bewusstsein geschaffen für das, wo wir mit Only Soul noch hin wollen und dem, was Yoga für uns ist.